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Aus der ZeitschriftPflegerecht 1/2017 | S. 63–64Es folgt Seite №63

Interview mit …

Seit gut einem Jahr sind Sie Präsident der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit; welche Ziele möchten Sie als Präsident in dieser Legislatur erreichen?

Mein Hauptziel ist zweifellos die Reform «Altersvorsorge 2020». Die AHV sichert zusammen mit der beruflichen Vorsorge (I. und II. Säule) unseren Wohlstand nach der Pensionierung. Wir leben immer länger, die grosse Generation der Babyboomer kommt in die Pension, und die Renditen der Kapitalmärkte sind tief, teilweise sogar negativ. Das sind riesige Herausforderungen auch für die Altersvorsorge der Schweiz. Andere Länder Europas sind deswegen bereits in eine Schuldenkrise versunken. Einfach könnte man das Problem lösen, indem das Rentenalter und die steigende Lebenserwartung angepasst würden. Das haben andere Länder so entschieden, findet aber (noch) keine Mehrheit in der Schweiz. Wir müssen also komplexere Alternativlösungen suchen, um dadurch das bestmögliche Gleichgewicht zwischen Gebern und Nehmern zu finden. So funktioniert die direkte Demokratie!

Am 15. Dezember 2016 haben Sie die Interpellation (16.4030) mit dem Titel «Einheitliche Abgeltung der zusätzlichen Pflegeleistungen für demente Menschen» eingereicht.

a.) Welche Absicht verfolgen Sie mit dieser Interpellation?

Eine weitere Herausforderung der alternden Gesellschaft ist Pflegebedürftigkeit. Je älter man wird, desto grösser wird die Gefahr der körperlichen und geistigen Abhängigkeit. In den letzten Jahrzehnten haben wir deswegen ausgezeichnete Dienstleistungen entwickelt, ambulant wie stationär. Von der Spitex bis hin zu den Alters- und Pflegeheimen ist eine Infrastruktur entstanden, die subsidiär zur familiären Verantwortung die meisten Bedürfnisse abdecken kann. Infolge der demografischen und gesellschaftlichen Entwicklung – die zersplitterten Familien sind weniger in der Lage, für ihre älteren Mitglieder zu sorgen – hat man diese Infrastruktur so stark ausgebaut, dass ihre Finanzierung nun schwierig ist. Die Pflegefinanzierung wurde 2011 schweizweit neu geregelt, doch steigen die Kosten rascher als vorgesehen, und das Geld wird knapp. Was tun? Einnahmen erhöhen (d. h. den Bürgern via Abgaben oder Prämien mehr Geld aus der Tasche nehmen)? Oder Ausgaben mindern (d. h. nicht mehr alle Wünsche/Bedürfnisse erfüllen)? Oder besser eine Mischung beider Optionen wählen?

Die Demenz ist insbesondere ein Problem. Neben dem menschlichen Leiden, die diese altersbedingte degenerative Krankheit schafft, ist sie wegen der intensiven persönlichen Betreuung sehr kostspielig. Die Krankenversicherungen leisten einen Beitrag an die Kosten gemäss einer Pflegebedürftigkeitsskala. So will es das Gesetz. Der Beitrag wird vom Bund festgelegt, die Skala der Pflegebedürftigkeit anhand unterschiedlicher Methoden (BESA, Plaisir, RAI) geregelt. Der Kanton Solothurn hat im Alleingang entschieden, die Spielregeln so zu ändern, dass ein grosser Teil der Rechnung von der Krankenversicherung bezahlt werden muss, was die Prämien steigen lässt. Das KVG sieht aber vor, dass Änderungen der Tarifstruktur nur vom Bund – bei behördlich festgelegten Tarifen – oder von den Vertragspartnern (Krankenversicherer und Leistungserbringer) – bei Verhandlungstarifen – vorgenommen werden können. Es stellt sich somit die Grundsatzfrage, ob der Solothurner Eingriff gesetzeskonform ist.

b.) Was erwarten Sie vom Bundesrat?

Mit meiner Frage möchte ich also vom Bundesrat wissen, wie er die Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund, Kantonen und Vertragspartnern sieht. Ich nütze aber gleichfalls die Gelegenheit, das grössere Thema der Pflegefinanzierung für demente Patienten anzusprechen.

Wo sehen Sie die besonderen Herausforderungen bezüglich der Langzeitpflege? (In der Finanzierung? Bei den Fachkräften im Gesundheitswesen? …)

Die Finanzierung der Langzeitpflege ist in meinen Augen das weitaus grösste Problem der nächsten 10 bis 20 Jahre. Unsere Generation der Babyboomer Aus der ZeitschriftPflegerecht 1/2017 | S. 63–64 Es folgt Seite № 64wird viel kosten, und die jungen Aktiven werden kaum in der Lage sein, alles zu finanzieren, ohne selber zu verarmen. Das Umverteilungssystem hat seine Grenzen. Das Problem der Fachkräfte ist zweitrangig und hängt direkt von den Finanzierungsmöglichkeiten ab: Je weniger Geld zur Verfügung steht, desto weniger Fachkräfte werden benötigt.

Die Schweiz war in den letzten zehn Jahren im internationalen Vergleich nur wenig von der Wirtschaftskrise betroffen. Entsprechend spüren nur wenige Menschen in unserem Land, dass wir in eine neue Ära der PostwachstumsgeseIlschaft eingetreten sind. Wir haben uns an einen automatischen Ausbau der Sozialkosten gewöhnt: Das Wirtschaftswachstum liess es zu. Diese Zeit ist nun vorbei.

Es wird zunehmend schwieriger, vom Volk Geld für die soziale Wohlfahrt zu erhalten (AHV- und IV-Beiträge, Krankenkassenprämien usw.): Auch die Solidarität hat Grenzen.

Die Kostenprognosen, die aus reiner Extrapolation der heutigen Kostenstruktur resultieren, greifen zu kurz. Wir brauchen Lösungen, die weniger kosten: Nur so wird es möglich sein, das bekannte Gleichgewicht zwischen den Nehmenden und den Gebenden zu finden. Krisen schaffen immer auch Innovation. Und ich habe grosses Vertrauen in die Innovationskraft unseres Landes.

Eines der gesetzgeberischen Ziele für die Neuordnung der Pflegefinanzierung bestand darin, dass versicherte Personen mit begrenzten Kosten zu Hause im gewohnten Umfeld gepflegt werden können. Entgegen dieser Maxime «ambulant vor stationär» werden versicherte Personen ab einem bestimmten Pflegeaufwand faktisch gezwungen, in eine stationäre Pflegeinstitution zu wechseln, weil Krankenversicherungen aus Wirtschaftlichkeitsüberlegungen nur den begrenzten Teil der ambulanten Pflegekosten übernehmen müssen, der für sie auch im Pflegeheim anfallen würde.

a.) Würde die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Pflegeleistungen die Situation entschärfen?

Es ist unbestritten, dass die heutige Finanzierung der medizinischen Leistungen (Wer zahlt die Rechnung?) zu Fehlanreizen führt. Die Akutemedizin wird stationär zu 45% mit Prämien- und zu 55% mit Steuergeldern finanziert, während ambulant 100% prämienfinanziert sind. Das schafft riesige Fehlanreize. Viele Leistungen können sowohl ambulant als auch stationär erbracht werden: ambulante Leistungen kosten jedoch weniger. Doch würde heute eine grosse Verschiebung der Leistungen aus dem stationären in den ambulanten Bereich zu markanten Prämiensteigerungen führen, was unerwünscht ist. Deshalb ist es dringlich, eine einheitliche Finanzierung ambulant und stationär (EFAS) voranzutreiben.

Im Bereich der Langzeitpflege ist die Devise nicht mehr «ambulant vor stationär», sondern «ambulant und stationär». Das Wohn- und Pflegemodell 2030 von CURAVIVA Schweiz bietet eine gute konzeptionelle Diskussionsbasis. In diesem Bereich muss auch die Finanzierung grundlegend neu gedacht werden. Die Ergänzungsleistungen zu AHV und IV sind de facto zu einer neuen Art unbegrenzter Pflegeversicherung geworden, was ihre ursprüngliche Aufgabe übersteigt.

b.) Welche weitere Lösung schlagen Sie vor?

2045 wird ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung in Pflegeheimen leben oder daheim auf Spitex-Hilfe angewiesen sein. Eine Vereinfachung des Finanzierungssystems ist unabdingbar: Die «verrückte» Unterscheidung zwischen Betreuung und Pflege, sowie zwischen ambulant und stationär, kostet viel und bringt nichts. Das System ist überreguliert und frisst wegen dieser Regulierungskosten zu viele Ressourcen. Wir müssen andere Wege einschlagen, beispielsweise den Einzelmenschen und ihren Familien mehr Freiheit und mehr Verantwortung überlassen, dies zusammen mit einer sozialen Pauschalfinanzierung.

Angesicht der stetig steigenden Langzeitpflegekosten stellt sich die Frage: Wie können die Kosten künftig finanziert werden? Wäre die Einführung einer Pflegeversicherung ein möglicher Lösungsansatz?

Der Thinktank Avenir Suisse hat hierzu ein interessantes Modell entwickelt: das Pflegesparkonto. Grundsätzlich geht es darum, Anreize dafür zu schaffen, dass jeder Mensch Verantwortung für seinen Lebensunterhalt im Alter besser tragen kann. Die demografische Entwicklung lässt nämlich eine Umverteilung der Lasten (die Jungen zahlen für die Alten) nicht mehr zu. Mein Kollege Ständerat Josef Dittli (FDP, UR) fordert in einer kürzlich eingereichten Motion 16.4086 die Schaffung eines neuen Pflegesparkontos, das individuell und steuerfrei sein soll – quasi eine vierte Säule. Die politische und gesellschaftliche Debatte läuft. Ich bin gespannt auf die Lösungen, die unsere direkte Demokratie hier finden wird.