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Aus der ZeitschriftPflegerecht 1/2022 | S. 53–55Es folgt Seite №53

Interview mit…

Barbara Gysi, Nationalrätin seit 2011; dipl. Sozialpädagogin

Seit 11 Jahren ist Barbara Gysi Mitglied des Nationalrates. Sie ist im Zürcher Unterland aufgewachsen und lebt nun in Wil, St. Gallen. Als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei (SP) und aufgrund ihrer beruflichen Herkunft stehen für sie die sozialen und ökologischen Fragen im Vordergrund. Wichtig sind für Barbara Gysi Frauenfragen. Sie setzt sich ein für die Lohngleichheit, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und vergisst dabei die Kinderkrippen nicht. Generell sind ihr auch die Arbeitsbedingungen wichtig, beispielsweise von den Pflegefachpersonen, von denen rund 90% Frauen sind. Als Mitglied der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK-N) war ihre Mitgliedschaft im Initiativkomitee der Pflegeinitiative des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) daher klar. Das Initiativkomitee bestand aus 27 Politiker/innen und aus Berufsleuten der Pflege, welche die Patientensicherheit in den Vordergrund stellten.

Die Behandlung der Initiative hat knapp 4 Jahre gedauert und in dieser Zeit etliche Höhen und Tiefen erlebt. Für den SBK waren es nach der glanzvollen Unterschriftensammlung in 8 Monaten schwierige Momente, weil man nach dem Nein des Bundesrates zur Initiative auf das Parlament warten und auf einen Gegenvorschlag hoffen musste. Wie war diese Phase für die Politikerin Barbara Gysi?

Die Erarbeitung war für mich etwas vom Spannendsten und Bereicherndsten in meiner bisherigen Zeit im Nationalrat, begleitet von vielen Gesprächen und Überzeugungsarbeit hüben und drüben. Zuerst mussten wir die Basis für einen indirekten Gegenvorschlag legen. Dann eine glaubwürdige Person finden, die in der Kommission einen Antrag für einen Gegenvorschlag einreicht. Danach galt es, die Vorstellungen des Initiativkomitees, die wir mit juristischer Expertise entwickelt hatten, in die Diskussionen einzubringen und möglichst viel davon in das Projekt einzuschleusen. Dabei habe ich mit einer Vielzahl von Akteur/innen (Politik, Verbände, Verwaltung) zusammengearbeitet.

Welches waren für dich die grössten Hürden?

Die Vorstellungen zum Gegenvorschlag gingen weit auseinander. SVP und FDP wollten nur ein paar wenige Millionen in die Ausbildung geben, keine eigenverantwortliche Abrechnung einführen und keine Aufwertung des Pflegeberufs. Und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen seien Sache der Sozialpartner. Wir mussten in Einzelgesprächen immer wieder Mehrheiten beschaffen und überlegen, wie wir vorgehen. Als Mitglied des Initiativkomitees war es oft nicht sinnvoll oder zielführend, Anträge selbst einzubringen. Denn ich wollte weder die Initiative schwächen, noch den Eindruck erwecken, dass dies einfach die Vorschläge der Initiant/innen seien. Die Koordination mit dem Ständerat war herausfordernd. Hier hat es geholfen, dass meine Kollegin Marina Carobbio bei den Beratungen im Nationalrat zu Beginn noch dabei war und nach ihrer Wahl in den Ständerat in der ständerätlichen SGK Einsitz nahm.

Welches sind die wichtigsten Bestandteile des Gegenvorschlags?

Eine Ausbildungsoffensive, die mit rund 1 Milliarde Franken von Bund und Kantonen über 8 Jahre die HF- und FH-Ausbildungen fördert. Ausbildungslöhne sollen erhöht, die Ausbildungsplätze in den Institutionen mitfinanziert und die Fachhochschulen und höheren Fachschulen zusätzlich unterstützt werden.

Die eigenständige Abrechnung für Pflegefachpersonen für gewisse Leistungen wird endlich realisiert. Zudem wird aufwendige Pflege (Demenz, palliativ) besser abgegolten.

Umstritten waren bei der Ausbildungsoffensive die Höhe der Beträge und die direkten Zahlungen an Studierende. Umstritten und von den Krankenkassen massiv bekämpft, war die eigenverantwortliche Abrechnung, hier wurde der Passus eingebaut, dass der Bundesrat im Falle einer ungerechtfertigten Mengenausweitung Massnahmen ergreifen kann.

Aus der ZeitschriftPflegerecht 1/2022 | S. 53–55 Es folgt Seite № 54Kam der Gegenvorschlag des Parlamentes inhaltlich an die Anliegen der Volksinitiative heran?

Er war ein Riesenschritt und daher auch ein grosser Erfolg. Problematisch daran ist, dass die Kantone für die Bildungsoffensive selbst eine gesetzliche Grundlage brauchen und kaum ein Kanton Vorarbeiten gemacht hat.

Der grosse Mangel war, dass er nichts zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und zur Verbesserung beim Personaleinsatz beinhaltet. Anträge zu einer Pflicht für Gesamtarbeitsverträge und eine verbindliche Nurse-to-Patient-Ratio haben wir gestellt. Sie waren leider chancenlos.

Was hätte man noch machen müssen, damit die Initiative zurückgezogen worden wäre?

Eine Ausbildungsoffensive ohne Massnahmen, um die Arbeitsbedingungen und somit die Berufsverweildauer zu verbessern, ist letztlich wirkungslos und verpufft.

Der Druck in der Pflege ist schon lange sehr gross und hat sich mit der Coronapandemie noch verstärkt. Darum war klar, dass es zwingend Vorgaben auf nationaler Ebene zu den Arbeitsbedingungen braucht.

Wie waren die Reaktionen im Parlament, als der Gegenvorschlag stand?

Die Erwartung ans Initiativkomitee, die Initiative zurückzuziehen, war gross. Auch die Arbeitgeberverbände, die stark mitgeholfen hatten, einen guten Gegenvorschlag zu erarbeiten, versuchten Druck zu machen, dass wir die Initiative zurückziehen.

Der berühmte Satz «Lieber der Spatz in der Hand statt die Taube auf dem Dach» wurde immer wieder bemüht. Es gab auch verhaltene «Drohungen», dass bei einem Sieg der Initiative alles weg sei und wir die Milliarde für die Ausbildungsoffensive nicht mehr so einfach bekämen.

Der 28. November 2021 war der Höhepunkt der Initiative. Mit einem derart guten Resultat hatten wir nicht gerechnet. Was ging dir dabei durch den Kopf?

Das ist ein historischer Erfolg! Ein Sieg für bessere Arbeitsbedingungen, ein Sieg für einen Frauenberuf und eine grosse Unterstützung der Bevölkerung für eine gute und starke Pflege.

Die Pflege wird nachhaltig gestärkt und ihr Stellenwert in allen Prozessen steigen. Sie wird zukünftig auf Augenhöhe verhandeln.

Gleichzeitig ging ein unglaublich spannender und intensiver Abstimmungskampf zu Ende. Auch das war für mich ein Highlight. Denn es war eine Kampagne, in der sich sehr viele Pflegefachfrauen und -männer engagierten, eindrücklich über ihre Arbeit berichteten und so für die Menschen erfahrbar machten, warum sie Ja stimmen müssen. Diese gemeinsamen Informationsveranstaltungen und die Politisierung der Menschen, die sonst ja vor allem dafür sorgen, dass es den anderen (ihren Patient/innen, Bewohnenden) besser geht, war einmalig.

Ihr habt nun einen Gegenvorschlag ausgearbeitet, der teilweise in die Umsetzung der Volksinitiative gelangen soll. Kannst du zu diesem Punkt bereits etwas sagen?

Mit dem Abstimmungserfolg der Initiative war der indirekte Gegenvorschlag vorerst vom Tisch, weil es eine entsprechende Verbindungsklausel gab. Wir hatten aber vor dem Abstimmungssonntag klar geäussert, dass wir eine 2-stufige Umsetzung sehen. In einem ersten Paket das gut austarierte Projekt des Gegenvorschlags direkt umsetzen und parallel dazu ein zweites Paket erarbeiten, das die Grundlagen für bessere Arbeitsbedingungen und einen besseren Personaleinsatz beinhaltet.

Der Bundesrat hat das am 12. Januar 2022 aufgenommen und entschieden, dass er die Pflegeinitiative in zwei Etappen umsetzen will. Das Projekt des Gegenvorschlags will er ohne erneute Vernehmlassung dem Parlament rasch vorlegen, für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen setzt er eine Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz des BAG ein. Hier werden auch SECO, SBFI und BJ sowie die Sozialpartner einbezogen.

Beide Gesundheitskommissionen haben sich in ihren Januar-Sitzungen informieren lassen. Die ständerätliche SGK begrüsst und unterstützt das Vorgehen des Bundesrats. In der SGK-Nationalrat wurde ein erstes Mal deutlich, dass wir auch für die Umsetzung hart werden kämpfen müssen. Denn hier wurde mit Stichentscheid des Präsidenten entschieden, dem Bundesrat in einem Schreiben mitzuteilen, er solle im Paket 1 nur die Ausbildungsoffensive bringen.

In 18 Monaten sollen die Übergangsbestimmungen festgelegt werden. Ist dieser Zeitpunkt realistisch?

Wegen dieser Frist will der Bundesrat möglichst rasch und bereits mit Parlamentsbeschlüssen vorangehen. Auf dem Verordnungsweg kann er nur Verbesserungen aufnehmen, für die eine gesetzliche Grundlage besteht. Eine rasche Legiferierung zu allen Fragen ist darum zentral.

Die 18-Monate-Frist ist sehr herausfordernd, wenn man sieht, wie lange viele Gesetzesprozesse dauern. Doch wir haben schon viel erarbeitet, und in der Pandemie haben Verwaltung und Parlament bewiesen, dass es auch schnell geht, wenn der Druck hoch ist. Beim Mangel an Pflegepersonal und bei den hohen Ausstiegszahlen sehen wir: Der Druck ist hoch!

Aus der ZeitschriftPflegerecht 1/2022 | S. 53–55 Es folgt Seite № 55Der Bundesrat hat eine Stelle Projektleitung für die Umsetzung der Pflegeinitiative ausgeschrieben, die auch aus der Pflege sein kann. Siehst du darin einen Nutzen für die Initiative?

Es ist von grossem Vorteil, wenn die Projektleitung die Verhältnisse gut kennt und eine grosse Nähe zur Pflege hat. Es geht darum, eine möglichst gute Lösung auszuhandeln und Verständnis zu schaffen. Ich begrüsse das sehr.

Du hast in dieser Zeit enorm viel für die Pflegeinitiative gemacht. Welche Erkenntnisse aus dieser Zeit kannst du für deine weitere Arbeit nutzen?

Gute Netzwerke und geschicktes Verhandeln sind nebst genügend Kenntnissen der Materie von grosser Bedeutung. Es braucht eine gute Koordination und ein engagiertes Team, um sich auch immer wieder abzusprechen.

Ich durfte viele wertvolle Kontakte knüpfen und habe selbst auch wieder viel gelernt.

Wie geht es nun weiter mit der Umsetzung der Pflegeinitiative?

Spätestens in der Herbstsession muss der Erstrat über Paket 1 entscheiden. Der SBK muss zusammen mit den anderen Gewerkschaften und Verbänden die Vorstellungen zu den Verbesserungen der Arbeitsbedingungen konkretisieren. Parallel müssen wir die Netzwerke weiter pflegen und nutzen, um diese Anliegen dann in der parlamentarischen Arbeit mehrheitsfähig zu machen.

Die Erwartungen der Pflegefachpersonen an die Umsetzung sind hoch. Darum müssen wir ihnen auch zeigen, dass wir alles für eine gute Lösung tun.

Das Interview führte

im Namen der Redaktion der Zeitschrift «Pflegerecht».