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Aus der ZeitschriftPflegerecht 3/2019 | S. 181–182Es folgt Seite №181

Interview mit...

Lieber Thomas

Seit Jahren forschst du u.a. zum Thema der Finanzierung von Pflegeleistungen. Siehst du die Einführung einer obligatorischen Pflegeversicherung als Lösung, um die steigenden Pflegekosten für Langzeitkranke und ihre Angehörigen in einem bezahlbaren Rahmen zu halten? Oder wäre eine steuerfinanzierte Lösung adäquater?

Meine Antwort auf diese Frage fällt sehr eindeutig aus: Auf jeden Fall sollte man in der Schweiz sehr bald eine Pflegeversicherung einführen, denn anders lassen sich nach meiner Einschätzung die finanziellen Herausforderungen der Pflege nicht in verfassungskonformer und sozialadäquater Weise bewältigen. Eine Versicherungslösung behandelt Pflegebedürftigkeit als soziales Risiko, was sie letztlich auch ist, und federt dieses in sozialpolitisch bewährter Art und Weise mit einer Versicherungslösung ab. Damit sind die Versicherten «Berechtigte» des Systems, in das sie selbst eingezahlt haben, und nicht nur «Begünstigte» eines bedarfsorientierten Versorgungssystems.

Das letztere Modell liegt ja gegenwärtig der Finanzierung der Alters- und Langzeitpflege durch die Ergänzungsleistungen zugrunde. Die meines Erachtens in diesen Punkten missratene EL-Revision, die das Parlament in der Frühjahressession verabschiedet hat, zeigt auf, was die Konsequenzen einer steuerfinanzierten und bedarfsorientierten Pflegefinanzierung sind: Die Kosten werden zunächst – völlig anders als bei anderen sozialen Risiken – auf die Pflegebedürftigen abgewälzt und dann, bei zwangsläufig steigenden Kosten, stets restriktiver gewährt.

Als abschreckendes Beispiel für ein steuerfinanziertes Pflegemodell kann auch auf die Sozialhilfe verwiesen werden: Diese ist auch steuerfinanziert und bedarfsorientiert. Die Diskussionen um lineare Kürzungen der Sozialhilfe, wie sie etwa im Kanton Bern geführt wurden, sind ein Vorgeschmack darauf, was mit einem steuerfinanzierten Pflegesicherungssystem geschehen würde oder, wenn es beim gegenwärtigen Modell bleibt, geschehen wird.

Du hast dich auch verschiedentlich zur Rechtsprechung des Bundesgerichts geäussert. So auch zu einem Fall einer Alzheimerpatientin im fortgeschrittenen Stadium (9C_528/2012 vom 20. Juni 2013, kommentiert in 4/2013, Nr. 49). Bei diesem Urteil äusserte sich das Bundesgericht zu einer «demenzgerechten und kosteneffizienten Betreuung». In praktischer Hinsicht stelle sich aber bald die Frage nach der Abgrenzung zu Leistungen, die nicht mehr der Grundpflege zugeordnet werden können. Zudem bedeute eine grosszügige Auslegung von Art. 7 Abs. 2 lit. c Ziff. 2 KLV einen zwar wirksamen, aber für viele Fälle nicht ausreichenden Ausbau der demenzgerechten Krankenpflege zu Hause. Was hat sich seit 2013 bezüglich einer demenzgerechten und kosteneffizienten Betreuung getan?

Wir sind hier leider noch nicht viel weitergekommen. Das Bundesgericht hat zwar eine einigermassen gefestigte und etablierte Praxis, bis zu welchem Mass die Pflegeleistungen auch bei Demenzkranken zu Hause übernommen werden, doch handelt sich bei dieser Praxis eher um eine Art Übergangslösung als um eine tragfähige Lösung für die Zukunft. Die Politik weiss aus verschiedensten Studien, welches Ausmass an Pflegebedürftigkeit (und damit welches Ausmass an Pflegekosten) in absehbarer Zukunft zu tragen sein wird. Und für diese Herausforderungen ist das geltende System noch nicht wirklich gerüstet. Die Praxis und die bisherigen Normen bieten da und dort ein Pflaster, stehen aber noch nicht auf solid finanzierten und auch langfristig tragfähigen Beinen.

Der Bundesrat überwies am 22. Mai 2019 die Botschaft zum Bundesgesetz über die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenpflege ans Parlament. Er stellte dabei Verbesserungen für pflegende Angehörige in Aussicht. Alzheimer Schweiz äussert sich enttäuscht über das Vorhaben, weil der längere Betreuungsurlaub «nur» für Eltern von kranken und verunfallten Kindern eingeführt werden soll, betreuende und pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz würden dadurch weitgehend ausser Acht gelassen. Gibst du Alzheimer Aus der ZeitschriftPflegerecht 3/2019 | S. 181–182 Es folgt Seite № 182Schweiz recht und sollte der Betreuungsurlaub auch für Angehörige Demenzkranker ausgeweitet werden?

Ja, diese Vorlage ist in der Tat noch nicht die Lösung, die wir für die Zukunft brauchen. Sie gibt allerdings auch nicht vor, das zu sein, denn sie will nur einen ganz bestimmten Ausschnitt der Problematik besser regeln. In den Bereichen, welche die Vorlage umfasst, halte ich sie für eine gute Diskussionsgrundlage.

Alzheimer Schweiz hat aber natürlich recht, dass diese Vorlage nicht die Lösung für die betreuenden und pflegenden Angehörigen mit Demenz bringt. Die Lösung für diese Angehörigen könnte und müsste nach meiner Einschätzung im Zusammenhang mit einer künftigen Pflegeversicherung konstruiert werden. Das künftige Pflegesystem wird nicht auf den Einbezug Angehöriger in die Pflege bei Demenz verzichten können; diese Angehörigen werden allenfalls in erheblichem und lange dauerndem Umfang Erwerbseinbussen sowie Nachteile in der sozialen Absicherung erfahren. Für diese Punkte muss eine Lösung gefunden werden, d.h., die künftige Pflegesicherung darf nicht einfach die Betreuungspflichten auf die Familien übertragen, sondern muss ein Modell beinhalten, das zumindest die gröbsten Nachteile für pflegende Angehörige ausgleicht. Dies wäre, nach meiner Einschätzung, im Zusammenhang mit einer künftigen Pflegeversicherung – bald – zu diskutieren.

In der Schweiz lebten 2018 ca. 151000 Personen mit Demenz, davon 7325 Menschen, die bereits vor dem 65. Altersjahr an Demenz erkrankt sind. Ältere Menschen, die an Demenz erkranken, leben oft in einem Pflegeheim, wenn sie zu Hause nicht mehr gepflegt werden können. Für jüngere Patienten fehlt es jedoch, je nach Bedarf, an adäquaten ambulanten oder stationären Pflegeeinrichtungen Wie sollte diese Problematik angegangen werden?

Am flexibelsten und bedarfsgerechtesten lässt sich den besonderen Bedürfnissen jüngerer Demenzkranker in einem ambulanten Setting gerecht werden. Allerdings stösst ein solches bei fortschreitender Demenz an die gleichen Schranken wie im Alter und wird eine stationäre Versorgung unumgänglich. Aufgrund der relativ geringen Fallzahlen fehlt es – wie ganz allgemein für die Pflege jüngerer Pflegebedürftiger – in den Kantonen an passenden Einrichtungen. Eine Lösung könnte in einer überregionalen Versorgungsplanung bestehen. Grosse Planungsregionen (beispielsweise mehrere Kantone gemeinsam) könnten entsprechende Abteilungen in geeigneten Einrichtungen betreiben. Das hätte den Nachteil «weiter Wege», doch dürften die Vorteile der adäquaten Versorgung überwiegen. Generell wird das Problem aber noch nicht als drängend wahrgenommen, weshalb sich auch nur wenige Initiativen dieser Art erkennen lassen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem in den Medien oft erwähnten Urteil entschieden, dass Hilfsmittel und Gegenstände nicht mehr separat über die obligatorische Krankenpflegeversicherung abgerechnet werden können, sondern bereits in der Grund- und Behandlungspflege abgedeckt sind. Der Bundesrat tut sich immer noch schwer mit einer Lösung. Steht hier der Bundesrat in der Pflicht oder reicht es, wenn die Kantone die zusätzlichen Kosten über die Restfinanzierung übernehmen?

Der zunächst wenig beachtete Entscheid zeigte seine eigentliche Sprengraft erst nach einiger Zeit. Und es zeigte sich im Kleinen etwas, was wir in den kommenden Jahren zunehmend sehen werden: einen Kampf darum, wer für die steigenden Kosten der Pflegeleistungen auf welcher Basis wie viel zahlen muss. Der Fall zeigt beispielhaft auf, dass das schweizerische System nur unzureichend für die Bewältigung der Langzeitpflege gerüstet ist.

Das Zusammenspiel unterschiedlicher «Zahler» verschiedener Ebenen wird sich letztlich in doppelter Hinsicht zulasten der Patientinnen und Patienten auswirken: Einerseits wird jede beteiligte Stelle versuchen, ihre Kosten möglichst im Griff zu behalten und damit gerade noch das zu leisten, was medizinisch-pflegerisch noch fachgerecht erscheint. Die Patientin-nen und Patienten werden in der Folge die entstehenden Bedürfnisse, die nicht mehr optimal über die Sicherungsleistungen abgedeckt sind, selbst zu finanzieren. Damit wird ein weiterer Teil der Pflegefinanzierung auf die Betroffenen abgewälzt. Wer das nicht möchte, muss aktiv über eine gesellschaftlich tragbare Form der Pflegeversicherung nachdenken.

Solltest du dereinst einmal selbst auf Pflege angewiesen sein, wie würdest du dir eine für dich adäquate Pflege vorstellen?

Selbst wenn man sich regelmässig mit Fragen rund um die Pflegebedürftigkeit beschäftigt, denkt man eher selten an eine eigene mögliche Pflegesituation. Es ist insofern eine sehr schwierige Frage! Für mich wäre aus heutiger Sicht die Vorstellung, dereinst in einem Pflegeheim gepflegt zu werden, fast angenehmer als die Idee, so lange wie möglich zu Hause gepflegt zu werden – weil Letzteres nur sinnvoll möglich ist, wenn sich die Familie intensiv mitengagiert. Für eine vorübergehende Zeit, weil beispielsweise der Tod oder Heilung absehbar ist, kann das für alle erträglich und sogar eine (auch im positiven Sinn) intensive Zeit sein. Für eine langzeitige Pflegebedürftigkeit würde ich meine Familie aber lieber entlasten.

Das Interview führte

Brigittte Blum-Schneider

im Namen der Redaktion der Zeitschrift «Pflegerecht»