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Aus der ZeitschriftPflegerecht 3/2022 | S. 129–129Es folgt Seite №129

Editorial

Das Selbstbestimmungsrecht stellt das Grundprinzip im Medizinrecht dar. Alle Massnahmen, die eine bestimmte Person betreffen, dürfen nur durchgeführt werden, sofern eine Einwilligung vorliegt oder der Gesetzgeber stellvertretend seine Ermächtigung dazu gibt. Eine stellvertretende Einwilligung durch den Gesetzgeber erfolgt beispielsweise bei Zwangsmassnahmen, die gegen den erklärten Willen der betroffenen Person wegen einer Selbst- oder Fremdgefährdung ergriffen werden. Abgesehen davon durften gemäss der bisherigen Praxis medizinische Eingriffe ohne vorgängige Aufklärung und Einwilligung nur durchgeführt werden, wenn entweder ein Notfall bestand oder von einer mutmasslichen Einwilligung eines «vernünftigen» Patienten ausgegangen werden konnte.

Diese Ausnahmen wurden anlässlich der Abstimmung vom 15.5.2022 betreffend die Transplantationsmedizin erweitert. Birgit Christensen und Thomas Gächter nehmen die von Volk und Ständen bewilligte Widerspruchsregelung in der Transplantationsmedizin zum Anlass, sich im ersten wissenschaftlichen Beitrag kritisch mit der Ausdehnung der stellvertretenden Einwilligung durch den Gesetzgeber auseinanderzusetzen. Sie betonen, dass die Transplantationsmedizin kein Sonderfall sein sollte bzw. auch in diesem medizinischen Dienstleistungsbereich sehr hohe Anforderungen an eine verfassungskonforme Umsetzung zu stellen sind.

Der zweite wissenschaftliche Beitrag widmet sich der stetig an Bedeutung zunehmenden Problematik der Finanzierung von Versorgungsleistungen durch staatliche Finanzmittel. Die «Objektfinanzierung» ist seit der Neuordnung des Finanzausgleiches im Jahr 2008 nicht nur für Pflegekosten, sondern auch für Betreuungskosten en vogue. Benedict von Allmen schildert ein Anschauungsbeispiel dafür, wie Unklarheiten bzw. Ungenauigkeiten in der gesetzgeberischen Konkretisierung zu einem sehr teuren Flickenteppich werden können. Der Kanton Zürich wurde jüngst verpflichtet, den Gemeinden die von ihnen fälschlicherweise bezahlten Versorgungskosten bei der Unterbringung von Kindern zurückzuerstatten. Statt irgendwelche Dienstleister zu finanzieren, sollten die Kosten für Versorgungsleistungen egal welcher Art bei der Person erfolgen, die auf die Versorgungsleistung angewiesen ist. Nur so lässt sich letztlich genau nachvollziehen, ob die Kosten gerechtfertigt sind, wie sich diese zusammensetzen und welche Kostenträger dafür in welchem Umfang aufzukommen haben.

Das von Heidrun Gattinger organisierte Forum widmet sich ebenfalls einem neuen Trend. Die starre Zweiteilung der beiden Berufe des Arztes und der Pflegefachpersonen wird zunehmend aufgeweicht. Spätestens seit der Verwissenschaftlichung der Pflege wurde aus dem «normalen» Beruf ein (auch) akademischer Beruf. Die wissenschaftlich geschulten Pflegefachpersonen sollen einen Teil der ärztlichen Aufgaben übernehmen und Ärzte entlasten, was in juristischer Hinsicht zentrale Fragen, etwa im Zusammenhang mit der Delegation und der Verantwortung, aufwirft. Dass auch andere Themen vom Gesetzgeber bis anhin nicht hinreichend geregelt sind, betonen Maya Zumstein-Shaha, Stefan Essig, Katja Weidling und Ueli Kieser in ihren Beiträgen.

Dass der Gesetzgeber nicht untätig ist, geht aus der Rubrik Gesetzgebung hervor. Verwaltung und Parlament sind nimmermüde daran, die normative Regelung auszudehnen bzw. deren Löcher zu stopfen. Manchmal gewinnt der distanzierte Leser den Eindruck, dass die Verantwortlichen die Bäume sehr wohl erkennen, aber sich im Wald nicht unbedingt zurechtfinden. Gerade die wissenschaftlichen Beiträge in diesem Heft verdeutlichen, dass im Pflegebereich nicht nur in Bezug auf die Versorgung, sondern auch auf die Finanzierung ein weitreichender Handlungs- und Reformbedarf besteht. Die Gesetzgebung wurde erstmals von Dominique Vogt, Universität Zürich, erstellt.

Den Abschluss des Hefts machen eine Urteilsbesprechung von Dominique Vogt zu einer interessanten arzneimittelrechtlichen Problematik und das von Helena Zaugg mit Melanie Rogantini und Ysé Wysshaar, zwei jungen Pflegefachfrauen, zur Umsetzung der Pflegeinitiative geführte Interview. Die beiden Pflegefachfrauen betonen, dass die Bedingungen für die Berufsausübung besser und attraktiver werden und letztlich die Pflegefachpersonen mehr Zeit haben sollten, um alle pflegerischen Aspekte zu berücksichtigen.

Ich hoffe, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, während der Sommerpause genügend Zeit finden, das vorliegende Heft mit Vergnügen und Erkenntnisgewinn durchzublättern sowie da und dort innezuhalten.

Ihr Prof. Dr. iur. Hardy Landolt LL.M.