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Aus der ZeitschriftPflegerecht 4/2020 | S. 242–243Es folgt Seite №242

Interview mit...

Pierre-André Wagner, Rechtsanwalt, LL.M., dipl. Pflegefachmann, Leiter Rechtsdienst SBK-ASI

Sehr geehrter Herr Wagner, Sie sind Pflegefachmann, Anwalt und seit 19 Jahren Leiter des Rechtsdienstes beim Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK. Was hat Sie dazu bewogen, diese Stelle anzunehmen?

Ich habe ja zuerst Jus studiert und wurde im Rahmen meines Masterstudiums an der York University in Toronto erstmals mit feministischer Rechtswissenschaft konfrontiert; seither beschäftigt mich die Problematik der Gleichberechtigung von Frau und Mann, und es war sicher auch kein Zufall, dass ich mich entschlossen habe, auf dem zweiten Bildungsweg einen «Frauenberuf» zu ergreifen. Der Auftrag, den Rechtsdienst des SBK aufzubauen, gab mir die einmalige Gelegenheit, zwei Leidenschaften – das Recht als Motor des gesellschaftlichen Fortschritts und die Pflege – zu verbinden. Meine Anfangshypothese hat sich seither beinahe täglich bestätigt, nämlich, dass jedes rechtliche oder rechtspolitische Problem, mit dem die Pflege konfrontiert ist, direkt mit dem Umstand zu tun hat, dass es sich eben um einen «weiblich identifizierten» Beruf handelt.

Mit welchen Anfragen und Anliegen wenden sich Pflegefachpersonen an den Rechtsdienst des SBK? Gibt es Anfragen, die Sie persönlich besonders interessant finden?

Für Rechtsberatungen sind in erster Linie die regionalen Sektionen des SBK zuständig. Bei uns landen die Fälle, die zu einem Rechtsstreit auswachsen, in denen das Mitglied den Rechtsschutz des SBK erhält und in denen wir bereit sind, mit ihm vor Gericht zu gehen. Meistens geht es um Arbeitsrecht; da gehen mir die Fälle von engagierten Pflegefachleuten an die Nieren, die den Mut haben, sich gegen Missstände zu engagieren, und die deshalb gemobbt und weggeekelt werden, das bekannte Schicksal von Whistleblowern. Diskriminierung ist durchaus ein Thema. Der SBK ist einer der Verbände, die am meisten Lohngleichheitsprozesse geführt haben. Häufig findet Diskriminierung leider auch aufgrund von Schwangerschaft statt. Auch Strafrechtsfälle kommen vor – da erkenne ich eine verhängnisvolle Tendenz (übrigens nicht nur in der Pflege), für gesellschaftliche und politische Fehlentwicklungen (wie den Pflegenotstand) Sündenböcke zu suchen und zu bestrafen, also etwa die Pflegefachperson, der bei akutem Personalmangel im Stress ein Fehler passiert.

Aber der Rechtsdienst ist vor allem rechtspolitisch tätig: Da geht es um Interventionen bei den Bundesbehörden, um Verhandlungen mit Arbeitgeberverbänden, um das Verfassen von Vernehmlassungen und Stellungnahmen. Inakzeptabel ist für uns die immer masslosere Flexibilität, die von den Pflegefachpersonen abverlangt wird und jede Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben zur Illusion macht, z.B. wenn geplante Dienste kurzfristig abgesagt oder die Mitarbeiter umgekehrt in ihrer Freizeit zur Arbeit aufgeboten werden. Das macht die Menschen und den Beruf kaputt.

Ein besonderes Vergnügen bereitet mir meine publizistische Tätigkeit. Wie jeder würdige Jurist schreibe ich liebend gern, z.B. mein im Reiseführermodus gehaltenes Buch «Pflege und Recht» oder meine Berichte über Rechtsschutzfälle in der SBK-Zeitschrift «Krankenpflege».

Was war das prägendste Erlebnis in Ihrer bisherigen Arbeit beim Rechtsdienst SBK?

Ich wüsste gar nicht, wo anfangen. Ganz sicher aber der Tag, an dem wir nach nur kurzer Sammelzeit die Kartons mit den Unterschriften für die Pflegeinitiative der Bundeskanzlei übergaben. Dann die Nachrichten gewonnener Prozesse wie um die Lohngleichheit der St. Galler Pflegefachpersonen und Hebammen oder um die Restfinanzierung für die freiberuflichen Pflegefachpersonen im Kanton Genf. Oder der Hilferuf einer Pflegefachfrau, die dem Wunsch eines Patienten nachgekommen war, nicht künstlich am Leben erhalten zu werden, und deshalb fristlos entlassen und wegen vorsätzlicher Tötung angeklagt wurde.

Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf bei pflegerechtlichen Fragen?

Die Arbeitsbedingungen und damit auch die Attraktivität des Pflegeberufes müssen unbedingt verbes- Aus der ZeitschriftPflegerecht 4/2020 | S. 242–243 Es folgt Seite № 243sert werden, was damit anfängt, dass das Arbeitsgesetz auch wirklich systematisch durchgesetzt wird. Dazu fehlen den Betrieben aber die Mittel – finanziell und personell, was aufs Gleiche hinausläuft. Deshalb muss die Finanzierung komplett umgestaltet werden. Es kann nicht sein, dass für diejenigen, die das Gros der Gesundheitsleistungen erbringen, von den enormen Summen, die wir als Steuer- und Prämienzahler bezahlen, nur Krümel übrig bleiben; und ich spreche nicht (primär) von den Löhnen, sondern von den Mitteln, die den Betrieben für das Personal und dessen Arbeitsbedingungen zugestanden werden. Das Grundanliegen: Das Gesundheitswesen soll endlich aufhören, eine Geldmaschine zu sein, um wieder das zu werden, was es sein sollte: ein Service public. Dass der Patient im Mittelpunkt steht, ist leider schon lange nur noch eine leere Phrase. Zum Leidwesen der Pflege. Nicht umsonst sind dies alles Grundanliegen der Volksinitiative für eine starke Pflege – die übrigens genauso gut Volksinitiative für eine starke Patientensicherheit heissen könnte.

Am Schluss noch eine Frage zur aktuellen Situation: Sehen Sie aus rechtlicher Perspektive aufgrund der Coronapandemie neue Herausforderungen für die Pflege?

Unter «rechtlich» verstehe ich hier wieder «rechtspolitisch»: Die Coronakrise hat nur mit besonderer Schärfe vorbestehende, chronische Probleme sichtbar gemacht. Ohne Personalnotstand hätte der Bundesrat nie beschliessen müssen, die Arbeits- und Ruhezeitvorschriften des Arbeitsgesetzes ausser Kraft zu setzen und den medizinischen Normalbetrieb komplett einzustellen. Wenn die Spitäler und Heime vernünftig finanziert würden, müssten sie nicht auf jede erdenkliche Art ihr unternehmerisches Risiko auf die Mitarbeitenden überwälzen. Dies hat alles mit Wertschätzung im eigentlichen Wortsinn zu tun: Statt immer nur von den (übrigens vernachlässigbaren) Kosten der Pflege zu reden (und gleichzeitig Lobeshymnen auf die Heldinnen der Nation anzustimmen), sollten Politik und Gesellschaft endlich deren Wert (an)erkennen. Ich werde nicht müde, die amerikanische Pflegejournalistin Suzanne Gordon zu zitieren, die es auf den Punkt bringt: «Nurses save lives and save money»!

Das Interview führte

im Namen der Redaktion

der Zeitschrift «Pflegerecht»