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Aus der ZeitschriftPflegerecht 4/2022 | S. 229–230Es folgt Seite №229

Interview mit …

Lukas Engelberger, Regierungsrat, Präsident GDK, Gesundheitsdepartement des Kantons Basel-Stadt

Sehen Sie Handlungsbedarf in der Frage der Finanzierung der Pflegekosten im Zusammenhang mit dem zu erwartenden Anstieg?

Der Bedarf an Langzeitpflege wird mit der Alterung der Bevölkerung steigen. Ältere Personen erkranken häufiger chronisch und mehrfach. Gleichzeitig übernimmt die Spitex zunehmend Leistungen, die früher im Spital oder in Arztpraxen erbracht wurden. Der Pflegebedarf nimmt also zu – mit den entsprechenden Kostenfolgen. Die Pflegefinanzierung muss mit dieser Entwicklung Schritt halten und wo nötig angepasst werden.

Wie bewerten Sie als Präsident der GDK die aktuelle Lösung, die eine Kostentragung von Kantonen, Krankenversicherung und Versicherten vorsieht?

Im aktuellen System tragen die Kantone das Kostenwachstum alleine. Die obligatorische Krankenversicherung übernimmt fixe Beiträge, die pflegebedürftigen Personen müssen sich mit maximal 23 Franken pro Tag an den Pflegekosten beteiligen. Der offene und steigende Restbetrag wird von den Kantonen und Gemeinden getragen. Die Pflegebedürftigen (und subsidiär die EL) tragen ihrerseits das Kostenwachstum im Bereich der Betreuungsleistungen. Die Krankenversicherung bleibt von der Kostenentwicklung verschont. Das ist eine Schieflage in der Finanzierung.

Welche Rolle spielen aus Ihrer Sicht die Ergänzungsleistungen bei der Pflegefinanzierung?

Das System der Ergänzungsleistungen ist zielgerichtet und bedarfsorientiert, eine wichtige und gut durchdachte Sozialversicherung. Die pflegebedürftigen Personen müssen neben dem Beitrag an die Pflegekosten auch für die Betreuungs- und Pensionskosten im Pflegeheim aufkommen. Wenn die eigenen finanziellen Mittel dafür nicht ausreichen, kann ein Gesuch um Ergänzungsleistungen gestellt werden. Diese helfen dort, wo die Lebenshaltungskosten nicht gedeckt werden können und gehören zum sozialen Sicherheitsnetz der Schweiz. Mehr als die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen sind für die Finanzierung der Pensions- und Betreuungskosten auf Ergänzungsleistungen angewiesen. Im gegenwärtigen Finanzierungssystem zeichnet sich ab, dass künftig mehr Menschen auf EL angewiesen sein werden.

Wie könnte eine künftige Lösung aussehen?

Das Bundesparlament diskutiert derzeit einen Systemwechsel. Ambulante und stationäre Leistungen sollen künftig einheitlich finanziert werden. Die Kantone bieten Hand für diese Reform – aber nur, wenn darin auch die Pflegeleistungen enthalten sind. Bis zur allfälligen Einführung einer einheitlichen Finanzierung wird es aber noch ein paar Jahre dauern. Bis dahin sollten die Beiträge der Versicherer regelmässig an die Kostenentwicklung angepasst werden. Lösungen braucht es überdies für die Finanzierung der Palliative Care, also der Betreuung und Behandlung von Menschen mit unheilbaren, lebensbedrohlichen und/oder chronisch fortschreitenden Krankheiten. Diese Angebote, zu denen zum Beispiel mobile Palliative Care Teams, Hospize und Palliative Care Abteilungen in Pflegeheimen gehören, werden heute mangels Alternativen in der Regel wie die Langzeitpflege finanziert. Weil der Aufwand für die Pflege von Palliativpatientinnen und -patienten aber höher ist, verbleiben sehr hohe Restkosten bei den Kantonen respektive Gemeinden, was eine bedarfsgerechte Angebotsentwicklung erschweren könnte.

Wie bewerten Sie die Möglichkeit einer obligatorischen Pflegeversicherung?

Es ist fraglich, ob wir der Bevölkerung eine weitere obligatorische Versicherung und weiteres Zwangssparen zumuten können. Zudem sind schwierige Abgrenzungsfragen zum KVG und entsprechende Fehlanreize zu befürchten. Ein Pflegesparkonto auf freiwilliger Basis wiederum würde bei einkommensschwachen Personen wohl auf eine geringe Nachfrage stossen. Eine fakultative Sparlösung hätte deshalb wohl keinen massgeblichen Effekt auf die Höhe der Ergänzungs- und Sozialleistungen. Aus der ZeitschriftPflegerecht 4/2022 | S. 229–230 Es folgt Seite № 230

Verschiedene Organisationen kritisieren die bisherige Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention auch in Bezug auf die fehlenden Möglichkeiten eines selbständigen Wohnens. Wie stehen Sie zu einer von einigen Kantonen angestrebten Umstellung von einer Objekt- zu einer Subjektfinanzierung?

Die Kantone leisten heute insbesondere Beiträge an das institutionelle Wohnen von Menschen mit Behinderungen, weil sie seit dem Inkrafttreten der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) von 2008 dafür zuständig sind. Das private Wohnen unterstützen sie vor allem in Form von individuellen Ergänzungsleistungen. Die beiden Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft haben ihr Finanzierungsmodell bereits 2017 subjektorientiert gestaltet. In den nächsten Jahren werden voraussichtlich die Kantone Bern, Zug und Zürich dazukommen. Erst dann lässt sich sagen, welche Auswirkungen das staatliche Finanzierungsmodell auf die Wahlfreiheit und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen bei der Auswahl des für sie am ehesten angemessenen Wohnangebotes hat. Neben dem Finanzierungsmodell sind nämlich auch die individuellen Ressourcen einer Person und deren Umfeld, namentlich die Betreuung durch Angehörige, entscheidend. Zudem braucht es einen niederschwelligen Zugang zu den IV-Assistenzleistungen und KVG-Spitex-Leistungen, ein genügendes Angebot an barrierefreiem und bezahlbarem Wohnraum sowie an Betreuungs- und Beratungspersonal.

Das Interview führte

im Namen der Redaktion der Zeitschrift «Pflegerecht».